Der
nachfolgende Text des französischen Philosophen Alain de Benoist stellt
das Résumé seiner Betrachtungen zum Reichsgedanken als Modell eines
künftigen Europas dar. In nüchternem Ton schafft er es zu begeistern. In
den Tiefen der Vergangenheit nach der Geschichte des Reichsgedankens
forschend, der sich seit Menschengedenken bald mehr, bald weniger
offensichtlich hervortut, der aber immer da war, verliert de Benoist
doch nie den Blick für die Probleme unserer heutigen Zeit.
Er
macht klar, daß es sich bei dem wahren Reichsgedanken niemals um einen
wie auch immer gearteten, ob föderalistisch oder zentralistisch
geordneten Nationalstaat handeln kann. Das Reich ist die notwendige und
heute schmerzlich fehlende verbindende Instanz zwischen nationaler
Volksidentität und internationaler Völkergemeinschaft. Ebenso wie das
Blut in den Adern jeden einzelnen Mensch fest, das heißt zwingend, in
einem bestimmten Volk wurzeln lässt, so stellt die Reichsidee eine
Zugehörigkeit dar, der jeder Mensch unabhängig seiner Herkunft angehören
kann, so er nur will.
Erst
ein solcher – im Gegensatz zur wirtschaftlichen Pseudogemeinschaft der
EU – wahrhaft völkervereinender Gedanke ist in der Lage, die drängenden
Probleme unserer Epoche anzugehen und die europäischen Völker gestärkt
aus ihrer dunkelsten Zeit emporsteigen zu lassen.
Europa als „Reich“
Der
Ruf an das Reich wird aus einer Notwendigkeit heraus erfolgen, die
manche nie aufgehört haben zu empfinden. Alexandre Kojève habe ich
bereits erwähnt. Hervorragend ist einer seiner erst vor kurzem
veröffentlichten Texte aus dem Jahre 1945, in dem er die Bildung eines
„latinischen Reichs“ herbeiwünschte und das Reich als notwendige
Alternative zur Staatsnation und zum abstrakten Universalismus
hinstellte. „Der Liberalismus“, schreibt er, „nimmt zu Unrecht keine
politische Wesenheit jenseits der Nation wahr. Der Internationalismus
wiederum macht den Fehler, daß er diesseits der Menschheit politisch
nichts Lebensfähiges erkennt. Auch er wußte nicht die politische
Zwischenrealität der Reiche zu entdecken, daß heißt der internationalen
Bündnisse, ja sogar Zusammenschlüsse verwandter Nationen, die eben die zeitgemäße politische Wirklichkeit ist.“
Europa,
wenn es zustande kommen soll, braucht eine politische
Entscheidungseinheit. Diese politische Einheit Europas kann aber nicht
nach dem jakobinischen, also zentralisierenden Modell der Nation
errichtet werden, sonst liefe sie Gefahr, den Reichtum und die Vielfalt
aller seiner Bestandteile zu verlieren. Sie kann ebensowenig aus der
wirtschaftlichen Supranationalität hervorgehen, von der die Brüsseler
Technokraten träumen. Eigentlich kann Europa nur nach dem Modell der
Föderation zustande kommen, einer Föderation aber, die eine Idee, einen
Entwurf, ein Prinzip in sich trägt, das heißt letzten Endes das imperiale Modell.
Ein
solches Modell würde dazu beitragen, die Frage der regionalen Kulturen,
der Minderheiten und der einzelnen Autonomiebewegungen zu lösen, für
die es im staatsnationalen Rahmen keine echte Lösung geben kann. Es
würde auch dazu beitragen, im Licht des gegenwärtigen Einwandererstromes
das problematische Verhältnis von Staatsbürgerschaft und
Volkszugehörigkeit zu überdenken. Es würde außerdem dazu beitragen, den
heute wieder drohenden Gefahren des ethno-sprachlichen Irredentismus und
des jakobinischen Rassismus vorzubeugen. Aufgrund der Bedeutung, die es
dem Begriff „Autonomie“ beimißt, würde ein solches Modell schließlich
den einzelnen Verfahren der unmittelbaren Basisdemokratie einen hohen
Stellenwert geben. Imperiales Prinzip ob, unmittelbare Demokratie unten:
Das würde eine alte Tradition erneuern!
Von
einer neuen Weltordnung ist heute viel die Rede. Eine neue Weltordnung
ist freilich notwendig, aber in welchem Zeichen wird sie zustande
kommen? Im Zeichen des Menschen als Maschine, des „Computhropen“, oder
im Zeichen einer vielfältigen Organisation der lebendigen Völker? Wird
die Erde auf das Einheitliche heruntergeschraubt – durch die Einwirkung
der angleichenden, also akkulturierenden und entpersönlichenden Moden,
deren zynischster und anmaßendster Träger heute zweifellos der
amerikanische Imperialismus ist? Oder werden die Völker in ihren
Glaubenshaltungen, ihren Traditionen, ihren Weltanschauungen die Mittel
zum notwendigen Widerstand finden? Das ist wohl die entscheidende Frage
an der Schwelle zum dritten Jahrtausend.
Wer Föderation sagt, meint auch föderierendes, also verbündendes Prinzip. Wer Reich und imperium
sagt, meint auch imperiale Idee. Eine solche Idee ist heute nirgendwo
sichtbar. Dennoch zieht sie sich unterschwellig durch die Geschichte.
Sie ist zur Zeit nur eine Idee, die noch keine Form gefunden hat. Diese
Idee hat aber eine Vergangenheit und demnach auch eine Zukunft. Für uns
geht es darum, Stellung zu beziehen und eine Haltung anzunehmen.
Uns
geht es aber auch darum, unsere Zugehörigkeit näher zu bestimmen. Zur
Zeit des Hundertjährigen Krieges lautete das Motto von Louis
d’Estouteville: „Wo die Ehre ist und die Treue, nur da ist mein
Vaterland.“ Wir haben eine Staatsangehörigkeit und sind stolz darauf.
Gemäß der imperialen Tradition können wir aber auch sozusagen Bürger
einer Idee sein. Diesen Standpunkt vertritt Julius Evola, wenn er
schreibt: „Die Idee, und nur die Idee darf für sie (die Menschen) das
echte Vaterland sein. Nicht daß sie von demselben Land kommen, dieselbe
Sprache sprechen oder desselben Blutes sind, sondern daß sie derselben
Idee angehören, muß für sie dasjenige sein, was sie eint oder trennt.“
Das soll nicht heißen, daß unsere Wurzeln zu vernachlässigen sind; im
Gegenteil, sie sind wesentlich. Das soll nur heißen, daß jede Sache in
ihrer jeweiligen Ordnung betrachtet werden muß. Da liegt der ganze
Unterschied zwischen der als Prinzip aufgefaßten Zugehörigkeit und der
Zugehörigkeit als reiner Subjektivität. Nur die Zugehörigkeit als
Prinzip versetzt uns in die Lage, nicht nur die Sache der Völker, ja
aller Völker, zu verfechten, sondern auch zu begreifen, daß die
Identität der anderen meine eigene keineswegs gefährdet, sondern aus dem
hervorgeht, was uns allen ermöglicht, unsere jeweilige Identität gegen
das totale/totalitäre System zu behaupten, das sie zu vernichten sucht.
Bekräftigen wir also die Überlegenheit der Idee, die die Verschiedenheit
zugunsten aller aufrechterhält. Bekräftigen wir den Wert des imperialen
Prinzips. Beschränken wir uns nicht darauf zu sagen, daß alles, was von
uns hierzulande stammt, wertvoll ist. Sagen wir vielmehr – mit Kraft
und Überzeugung –, daß alles Wertvolle von uns hierzulande stammt.
Entnommen
aus: Alain de Benoist, Schöne Vernetzte Welt – Eine Antwort auf die
Globalisierung“, S. 269 – 271, erhältlich beim Grabert Verlag.
Schlußbemerkung:
Man achte auch in dieser wertvollen Lektüre auf das praktische Wirken
der Polaritätsgesetze. Alain de Benoist hält das Prinzip der
Basisdemokratie unten und der übergeordneten Reichsidee oben für die
einzig denkbare Option für ein künftiges Europa. Auch lotet er den
Reichsbegriff als notwendige Instanz zwischen der Volks- und der
Menschheitsidentität aus. Die Reichsidee stellt somit das lebendige
Spannungsfeld zwischen zwei – entgegen der herrschenden Auffassung –
unvereinbaren Polen dar.
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