Dienstag, 3. April 2012

Europa als Reich

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Der nachfolgende Text des französischen Philosophen Alain de Benoist stellt das Résumé seiner Betrachtungen zum Reichsgedanken als Modell eines künftigen Europas dar. In nüchternem Ton schafft er es zu begeistern. In den Tiefen der Vergangenheit nach der Geschichte des Reichsgedankens forschend, der sich seit Menschengedenken bald mehr, bald weniger offensichtlich hervortut, der aber immer da war, verliert de Benoist doch nie den Blick für die Probleme unserer heutigen Zeit.
Er macht klar, daß es sich bei dem wahren Reichsgedanken niemals um einen wie auch immer gearteten, ob föderalistisch oder zentralistisch geordneten Nationalstaat handeln kann. Das Reich ist die notwendige und heute schmerzlich fehlende verbindende Instanz zwischen nationaler Volksidentität und internationaler Völkergemeinschaft. Ebenso wie das Blut in den Adern jeden einzelnen Mensch fest, das heißt zwingend, in einem bestimmten Volk wurzeln lässt, so stellt die Reichsidee eine Zugehörigkeit dar, der jeder Mensch unabhängig seiner Herkunft angehören kann, so er nur will.
Erst ein solcher – im Gegensatz zur wirtschaftlichen Pseudogemeinschaft der EU – wahrhaft völkervereinender Gedanke ist in der Lage, die drängenden Probleme unserer Epoche anzugehen und die europäischen Völker gestärkt aus ihrer dunkelsten Zeit emporsteigen zu lassen.
Europa als „Reich“
Der Ruf an das Reich wird aus einer Notwendigkeit heraus erfolgen, die manche nie aufgehört haben zu empfinden. Alexandre Kojève habe ich bereits erwähnt. Hervorragend ist einer seiner erst vor kurzem veröffentlichten Texte aus dem Jahre 1945, in dem er die Bildung eines „latinischen Reichs“ herbeiwünschte und das Reich als notwendige Alternative zur Staatsnation und zum abstrakten Universalismus hinstellte. „Der Liberalismus“, schreibt er, „nimmt zu Unrecht keine politische Wesenheit jenseits der Nation wahr. Der Internationalismus wiederum macht den Fehler, daß er diesseits der Menschheit politisch nichts Lebensfähiges erkennt. Auch er wußte nicht die politische Zwischenrealität der Reiche zu entdecken, daß heißt der internationalen Bündnisse, ja sogar Zusammenschlüsse verwandter Nationen, die eben die zeitgemäße politische Wirklichkeit ist.“
Europa, wenn es zustande kommen soll, braucht eine politische Entscheidungseinheit. Diese politische Einheit Europas kann aber nicht nach dem jakobinischen, also zentralisierenden Modell der Nation errichtet werden, sonst liefe sie Gefahr, den Reichtum und die Vielfalt aller seiner Bestandteile zu verlieren. Sie kann ebensowenig aus der wirtschaftlichen Supranationalität hervorgehen, von der die Brüsseler Technokraten träumen. Eigentlich kann Europa nur nach dem Modell der Föderation zustande kommen, einer Föderation aber, die eine Idee, einen Entwurf, ein Prinzip in sich trägt, das heißt letzten Endes das imperiale Modell.
Ein solches Modell würde dazu beitragen, die Frage der regionalen Kulturen, der Minderheiten und der einzelnen Autonomiebewegungen zu lösen, für die es im staatsnationalen Rahmen keine echte Lösung geben kann. Es würde auch dazu beitragen, im Licht des gegenwärtigen Einwandererstromes das problematische Verhältnis von Staatsbürgerschaft und Volkszugehörigkeit zu überdenken. Es würde außerdem dazu beitragen, den heute wieder drohenden Gefahren des ethno-sprachlichen Irredentismus und des jakobinischen Rassismus vorzubeugen. Aufgrund der Bedeutung, die es dem Begriff „Autonomie“ beimißt, würde ein solches Modell schließlich den einzelnen Verfahren der unmittelbaren Basisdemokratie einen hohen Stellenwert geben. Imperiales Prinzip ob, unmittelbare Demokratie unten: Das würde eine alte Tradition erneuern!
Von einer neuen Weltordnung ist heute viel die Rede. Eine neue Weltordnung ist freilich notwendig, aber in welchem Zeichen wird sie zustande kommen? Im Zeichen des Menschen als Maschine, des „Computhropen“, oder im Zeichen einer vielfältigen Organisation der lebendigen Völker? Wird die Erde auf das Einheitliche heruntergeschraubt – durch die Einwirkung der angleichenden, also akkulturierenden und entpersönlichenden Moden, deren zynischster und anmaßendster Träger heute zweifellos der amerikanische Imperialismus ist? Oder werden die Völker in ihren Glaubenshaltungen, ihren Traditionen, ihren Weltanschauungen die Mittel zum notwendigen Widerstand finden? Das ist wohl die entscheidende Frage an der Schwelle zum dritten Jahrtausend.
Wer Föderation sagt, meint auch föderierendes, also verbündendes Prinzip. Wer Reich und imperium sagt, meint auch imperiale Idee. Eine solche Idee ist heute nirgendwo sichtbar. Dennoch zieht sie sich unterschwellig durch die Geschichte. Sie ist zur Zeit nur eine Idee, die noch keine Form gefunden hat. Diese Idee hat aber eine Vergangenheit und demnach auch eine Zukunft. Für uns geht es darum, Stellung zu beziehen und eine Haltung anzunehmen.
Uns geht es aber auch darum, unsere Zugehörigkeit näher zu bestimmen. Zur Zeit des Hundertjährigen Krieges lautete das Motto von Louis d’Estouteville: „Wo die Ehre ist und die Treue, nur da ist mein Vaterland.“ Wir haben eine Staatsangehörigkeit und sind stolz darauf. Gemäß der imperialen Tradition können wir aber auch sozusagen Bürger einer Idee sein. Diesen Standpunkt vertritt Julius Evola, wenn er schreibt: „Die Idee, und nur die Idee darf für sie (die Menschen) das echte Vaterland sein. Nicht daß sie von demselben Land kommen, dieselbe Sprache sprechen oder desselben Blutes sind, sondern daß sie derselben Idee angehören, muß für sie dasjenige sein, was sie eint oder trennt.“ Das soll nicht heißen, daß unsere Wurzeln zu vernachlässigen sind; im Gegenteil, sie sind wesentlich. Das soll nur heißen, daß jede Sache in ihrer jeweiligen Ordnung betrachtet werden muß. Da liegt der ganze Unterschied zwischen der als Prinzip aufgefaßten Zugehörigkeit und der Zugehörigkeit als reiner Subjektivität. Nur die Zugehörigkeit als Prinzip versetzt uns in die Lage, nicht nur die Sache der Völker, ja aller Völker, zu verfechten, sondern auch zu begreifen, daß die Identität der anderen meine eigene keineswegs gefährdet, sondern aus dem hervorgeht, was uns allen ermöglicht, unsere jeweilige Identität gegen das totale/totalitäre System zu behaupten, das sie zu vernichten sucht. Bekräftigen wir also die Überlegenheit der Idee, die die Verschiedenheit zugunsten aller aufrechterhält. Bekräftigen wir den Wert des imperialen Prinzips. Beschränken wir uns nicht darauf zu sagen, daß alles, was von uns hierzulande stammt, wertvoll ist. Sagen wir vielmehr – mit Kraft und Überzeugung –, daß alles Wertvolle von uns hierzulande stammt.
Entnommen aus: Alain de Benoist, Schöne Vernetzte Welt – Eine Antwort auf die Globalisierung“, S. 269 – 271, erhältlich beim Grabert Verlag.
Schlußbemerkung: Man achte auch in dieser wertvollen Lektüre auf das praktische Wirken der Polaritätsgesetze. Alain de Benoist hält das Prinzip der Basisdemokratie unten und der übergeordneten Reichsidee oben für die einzig denkbare Option für ein künftiges Europa. Auch lotet er den Reichsbegriff als notwendige Instanz zwischen der Volks- und der Menschheitsidentität aus. Die Reichsidee stellt somit das lebendige Spannungsfeld zwischen zwei – entgegen der herrschenden Auffassung – unvereinbaren Polen dar.

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